Ist eine Stockwerkeigentümergemeinschaft verpflichtet, ihr Reglement gegenüber einzelnen Eigentümern auf dem Klageweg durchzusetzen?

von Alexander Rihs

1. Sachverhalt

In BGE 151 III 377 hatte das Bundesgericht über die Frage zu befinden, ob eine Stockwerkeigentümergemeinschaft verpflichtet ist, ihr Reglement gegenüber einzelnen Eigentümern auf dem Prozessweg durchzusetzen. Dem Entscheid lag der Sachverhalt zu Grunde, dass die Eigentümer einer Stockwerkeinheit in ihren Schlafzimmern sowie im Bereich Wohnen/Essen/Diele ihrer Wohnung die Bodenbeläge tauschten. Darin erblickten die Eigentümer der direkt darunter gelegenen Stockwerkeigentümereinheit eine Verletzung der Bestimmung des Stockwerkeigentümerreglements, welche es Stockwerkeigentümern untersagt, die Böden ihrer Räume übermässig zu belasten und die Beschaffenheit der Bodenbeläge samt Unterbau so zu verändern, dass daraus eine Verschlechterung der Schallverhältnisse zulasten anderer Stockwerkeinheiten resultiert. Anlässlich einer ordentlichen Stockwerkeigentümerversammlung beantragten sie daher unter anderem, die Verwaltung damit zu beauftragen und zu bevollmächtigen, von den Eigentümern der direkt über ihrer Stockwerkeinheit gelegenen Stockwerkeinheit den Rückbau der in den vier Schlafzimmern eingebauten Bodenbeläge innert zwei Monaten zu verlangen und erforderlichenfalls gerichtlich durchzusetzen. Einen identischen Antrag stellten sie bezüglich der im Bereich Wohnen/Essen/Diele eingebauten Bodenbeläge. Die Stockwerkeigentümergemeinschaft lehnte diese Anträge mit elf Stimmen gegen eine Stimme ab.

2. Erwägungen des Bundesgerichts

Das Bundesgericht erinnerte daran, dass einem Stockwerkeigentümer, um widerrechtliche Einwirkungen anderer Stockwerkeigentümer abzuwehren, die sein Sonderrecht störten, auch die Abwehransprüche aus Eigentum und Besitz zur Verfügung stünden. Insbesondere könne er auf Unterlassung übermässiger Immissionen klagen. Sodann wies das Bundesgericht darauf hin, dass die rechtlichen Beziehungen zwischen dem einzelnen Stockwerkeigentümer und der Gemeinschaft grundsätzlich über die Gemeinschaft laufen würden. Da die Versammlung der Stockwerkeigentümer das Reglement mit den notwendigen Mehrheiten jederzeit ändern könne, bestätigte das Bundesgericht die Richtigkeit seiner bisherigen Rechtsprechung, wonach kein Stockwerkeigentümer gegen einen anderen direkt auf Einhaltung des Reglements klagen könne, sondern vielmehr über sein Anliegen zuerst einen Beschluss der Gemeinschaft erwirken müsse, den er sodann unter den allgemeinen Voraussetzungen gerichtlich anfechten könne (vgl. BGE 151 III 377 E. 2.1, 2.2 und 2.3.1).

Nach Darlegung der mit Klage auf Anfechtung von Beschlüssen einer Stockwerkeigentümerversammlung geltend zu machenden Gründen sowie der Wiedergabe von Lehrmeinungen zur Frage, ob eine Stockwerkeigentümergemeinschaft verpflichtet ist, die Einhaltung ihres Reglements klageweise durzusetzen, erwog das Bundesgericht, dass die Freiheit der für einen Beschluss zuständigen Mehrheit durch das Anfechtungsrecht eines einzelnen Stockwerkeigentümers nicht leichthin beschränkt werden dürfe. Der Respekt vor dem Mehrheitsprinzip rufe vielmehr nach einer gewissen Zurückhaltung bei der Überprüfung solcher Beschlüsse. Indem das Gesetz für die Führung eines Zivilprozesses ausserhalb des summarischen Verfahrens eine Ermächtigung durch die Versammlung der Stockwerkeigentümer voraussetze, räume es der Stockwerkeigentümerversammlung das Recht ein, im Rahmen von Gesetz und Gemeinschaftsordnung frei zu entscheiden, ob sie den Prozess führen wolle oder nicht. Die Gemeinschaft sei über ihren Verwalter als ausführendes Organ zwar verpflichtet, über die Einhaltung des Reglements zu wachen. Daraus folge jedoch keine Pflicht, das Reglement ungeachtet der konkreten Umstände auf dem Klageweg durchzusetzen, andernfalls in diesem Bereich jegliche Freiheit der für den Beschluss zuständigen Mehrheit aufgehoben würde. Insbesondere mit Blick auf das Verhältnis zwischen den Stockwerkeigentümern und die in der Rechtsprechung zu Art. 712t Abs. 2 ZGB erwähnten Verfahrenskosten könne die Stockwerkeigentümerversammlung durchaus sachliche Gründe haben, sich gegen eine Klage zu entscheiden. Zu bedenken sei zudem, dass die Frage, ob tatsächlich ein Reglementsverstoss vorliege, Gegenstand des allfälligen Prozesses der Gemeinschaft gegen den als Verletzer ins Recht gefassten Stockwerkeigentümer bilde. Ob die Stockwerkeigentümerversammlung Klage einleiten wolle, werde die Stockwerkeigentümerversammlung auch von ihrer Einschätzung der Prozessaussichten abhängig machen. Dass im Zeitpunkt ihres Beschlusses bereits geklärt sei, ob tatsächlich eine Reglementsverletzung vorliege, könne dagegen nicht verlangt werden. Analoge Überlegungen würden für die Frage gelten, ob die Gemeinschaft der Stockwerkeigentümer ausserhalb eines Prozesses verpflichtet sei, ungeachtet der konkreten Umstände eine Beseitigung eines reglementswidrigen Zustands – im konkreten Fall einen Rückbau – zu verlangen: Abgesehen davon, dass im Zeitpunkt des Beschlusses nicht geklärt zu sein brauche, ob tatsächlich ein Reglementsverstoss vorliege, könnten auch hier sachliche Gründe für einen Verzicht auf einen solchen Schritt bestehen. Zu denken sei beispielsweise an die Auswirkungen auf das Verhältnis der Stockwerkeigentümer untereinander oder an Gesichtspunkte der Verhältnismässigkeit (vgl. BGE 151 III 377 E. 2.3.2 ff.).

Mit Bezug auf den konkreten Fall wies das Bundesgericht darauf hin, dass der beanstandete Einbau der Bodenbeläge vorliegend sich ausschliesslich im Verhältnis zwischen der betreffenden Stockwerkeinheit und der Stockwerkeinheit der beschwerdeführenden Stockwerkeigentümern auswirke. Gemeinschaftliche Interessen seien nicht betroffen. Als unmittelbar betroffene Eigentümer hätten die beschwerdeführenden Stockwerkeigentümer die Möglichkeit, gegen störende Immissionen nach Art. 679 i.V.m. Art. 684 ZGB vorzugehen. Im Rahmen einer Immissionsklage sei die fragliche Reglementsbestimmung insofern von Bedeutung, als sich nach ihr beurteile, ob eine übermässige Einwirkung vorliege. Ob das Beweisrisiko im Rahmen einer Klage aufgrund von Art. 679 i.V.m. Art. 684 ZGB sehr hoch sei, könne offen gelassen werden. Jedenfalls stehe den beschwerdeführenden Stockwerkeigentümern ein zumutbarer Rechtsweg zur Verfügung, um gegen durch den Einbau der neuen Bodenbeläge verursachte Störungen ihres Eigentums vorzugehen. Dass keine gemeinschaftlichen Interessen betroffen seien, sei ein sachlicher Grund für den Beschluss der Stockwerkeigentümergemeinschaft, auf die beantragten Vorkehren zu verzichten. Unter diesen Umständen verletze der Verzicht auf die zur Durchsetzung der fraglichen Reglementsbestimmung beantragten Vorkehren weder das Gesetz noch die Gemeinschaftsordnung. Insbesondere erscheine er weder als rechtsmissbräuchlich noch werde eine Ungleichbehandlung der Stockwerkeigentümer geltend gemacht (vgl. BGE 151 III 377 E. 2.4).

3. Kritik in der Lehre

Die Rechtsprechung des Bundesgerichts steht im Widerspruch zu der – auch vom Bundesgericht in seinem Entscheid angeführten – Lehre, welche die Pflicht der Stockwerkeigentümergemeinschaft ihr Reglement erforderlicherweise klageweise durchzusetzen gemeinhin bejaht (vgl. BGE 151 III 377 E. 2.3.4). Entsprechend ist der Entscheid des Bundesgerichts auch auf Kritik gestossen. So erachten Wermelinger/Varin die einer Stockwerkeigentümergemeinschaft eingeräumte Möglichkeit auf die Durchsetzung von Reglementsbestimmungen zu verzichten, als nicht schutzwürdig, da dadurch der Minderheitenschutzzweck der Anfechtungsklage nach Art. 75 ZGB als auch der in Art. 649a ZGB niedergelegte Grundsatz der Verbindlichkeit der Nutzungs- und Verwaltungsordnung ausgehöhlt würden (Amédéo Wermelinger/Simon Varin, Le choix de la PPE de ne pas faire respecter son propre règlement, analyse de l’arrêt du Tribunal fédéral 5A_17/2024, Newsletter immodroit.ch avril 2025, S. 5 mit Hinweis). Zu Recht weisen sie sodann darauf hin, dass es einer Stockwerkeigentümergemeinschaft nicht möglich sein sollte, ihr Reglement implizit mit einem mit einfachem Mehr gefasstem Beschluss «ändern» zu können und beanstanden mit Verweis auf die unterschiedliche Zielsetzung und Ausgestaltung der Anfechtungsklage, dass sich das Bundesgericht zu wenig damit auseinandergesetzt habe, was der Verweis der beschwerdeführenden Stockwerkeigentümer auf die Immissionsklage für diese tatsächlich bedeute (Wermelinger/Varin, a.a.O., S. 5 f. mit Hinweisen).

4. Fazit

Der Entscheid des Bundesgerichts beruht, wie Wermelinger/Varin m.E. zu Recht bemerken, im Wesentlichen darauf, dass den beschwerdeführenden Stockwerkeigentümern mit der Immissionsklage ein alternativer Rechtsweg zur Verfügung stand (Wermelinger/Varin, a.a.O., S. 5). Vor diesem Hintergrund ist zu erwarten, dass die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen eine Stockwerkeigentümergemeinschaft verpflichtet ist, ihr Reglement gegenüber einzelnen Eigentümern durchzusetzen, inskünftig noch Präzisierung erfahren wird.

In jedem Fall wird fortan vor Anhebung einer Klage gegen einen Beschluss einer Stockwerkeigentümerversammlung, von der Durchsetzung ihres Reglements abzusehen, abzuklären sein, ob den betroffenen Stockwerkeigentümern ein alternativer Rechtsweg – beispielsweise aufgrund von Abwehransprüchen aus Eigentum, Besitz oder Persönlichkeitsschutz – zur Verfügung steht und ob sachliche Gründe für einen Verzicht auf die Durchsetzung des Reglements sprechen könnten.